Ganz allgemein: "Gewalt" ist eine
Erscheinung, bei der sehr große, starke Kräfte
wirken.
Absolutely general: "Force" is a phenomenon, where great,
big strengths work.
En général: "Force" est un
phénomène où des énergies très
grandes et très puissantes opèrent.
Spezieller, in Bezug auf "zwischenmenschliche Gewalt", Gewalt
unter Menschen: "Gewalt" ist eine uns Menschen
natürlich gegebene und kulturell formbare
Handlungs-Möglichkeit, bei deren Verwirklichung wir uns
selbst oder anderen Schaden androhen oder tatsächlich
zufügen.
More specifically, in relation to "interpersonal violence",
violence between people: "Violence" is a possibility of
acting which is naturally given to us humans and which can be
culturally shaped, in the course of which we threaten or actually
inflict harm on ourselves or others.
Plus spécifiquement, en ce qui concerne la „violence
interpersonelle“, la violence entre des personnes:
"Violence" est une possibilité d'action naturellement
donnée à nous, les humains, et culturellement
malléable, dans la réalisation de laquelle nous
menaçons ou infligeons effectivement du dommage à
nous-mêmes ou aux autres.
Diese Gewalt-Definitionen sind
Vorschläge, die meines Wissens so noch nicht zur Diskussion
gestellt worden sind.
Obwohl (oder andersherum: weil) die Wortfelder von "force",
"violence", "power" und anderen Begriffen im Englischen sowie
„force“, „violence“,
„puissance“ und anderen im Französischen sich
zum Teil stark unterscheiden vom Deutschen, wo fast nur das Wort
„Gewalt“ mit seinem großen Wortfeld benutzt
wird, biete ich hier auch eine Übersetzung meiner
"Gewalt"-Definitionen ins Englische und Französische an, um
damit die internationale Diskussion anzuregen.
Eine ausführlichere Erörterung der besonderen
Begriffs-Problematik im Englischen habe ich beim X. CESH-Kongress
im November 2005 in Sevilla in englischer
Sprache vorgetragen (vgl. die deutsche
Fassung!); einen weiteren Kurz-Vortrag
habe ich im Februar 2006 beim "dies academicus" des (neu so
benannten) Fachbereichs "Bewegungswissenschaft" der
Universität Hamburg gehalten unter dem Titel
„Aggression und Gewalt. Ein Versuch, diese wichtigen
Begriffe zu klären und sie so wieder in den
sportwissenschaftlichen Diskurs zurückzuholen“. Beide
sind im Internet veröffentlicht (siehe
unten im Literaturverzeichnis!).
Im Folgenden begründe ich erstens, warum und wie ich "Gewalt" definiere, zweitens
erörtere ich Grenzen und Nutzen
meines Definitionsvorschlags, und drittens erläutere ich einzelne Elemente meiner
Definitionen; schließlich füge ich eine kurze
Liste ausgewählter Literatur
an.
1. "Gewalt" definieren - warum und
wie?
Gewalt zu definieren ist schwierig. Dennoch sind
die meisten Autoren der Meinung, dass eine Definition von
"Gewalt" nützlich und notwendig sei. Aber selten bieten
solche Autoren eine eigene Definition von "Gewalt" an.
Grundsätzlich muss meines Erachtens jeder
Wissenschaftler einen möglichst klaren Begriff von den
zentralen Gegenständen seiner Wissenschaft haben. Die
Philosophin, Soziologin und Politik-Wissenschaftlerin Hannah
Arendt hat schon 1970 beklagt, "dass unsere Fachsprache nicht
unterscheidet zwischen Schlüsselbegriffen wie Macht,
Stärke, Kraft, Autorität und schließlich Gewalt"
(2005, S. 69). Sie hat allerdings auch ihre Skepsis
geäußert, "dass Definitionen hier viel helfen
können". Trotzdem hat sie der "Versuchung" "kurz
nachgegeben", diese zentralen Begriffe zu definieren (2005, S. 69
- 73).
Ich arbeite seit einiger Zeit daran, diesem Mangel
in meiner (sport- bzw. kulturwissenschaftlichen) Fachsprache mit
eigenen Definitionsvorschlägen für "Sport" und "Bewegungskultur" abzuhelfen. Da ich mich mit vielen
kulturellen Aspekten (nicht nur der Sportwissenschaft)
beschäftige, arbeite ich an weiteren Begriffsklärungen.
Zum Begriff "Gewalt" sowie zum Begriff
"Aggression" habe ich seit 2005 meine
Definitionvorschläge zur Diskussion gestellt. Für den
Begriff
"Kunst" habe ich 2006 einen Definitions-Vorschlag gemacht und
2007 in einem Vortrag erläutert; das Gleiche gilt seit 2008
für den Gegenbegriff von "Gewalt", für den Begriff
"Frieden", 2011 grundlegend dargestellt im Beitrag "Frieden und
Sport" im Handbuch Frieden, aktualisiert in 2. Auflage
2019.
Als ich mich mit dem Thema "Gewalt in
Bewegungskultur und Sport" beschäftigte, fand ich eine
ähnliche Situation vor, wie sie schon Hannah Arendt
beschrieben hatte. Sowohl in Philosophie, Psychologie, Soziologie
und Pädagogik als auch in der Sportwissenschaft entstehen
durch Beliebigkeit und Unklarheit im Umgang mit dem
Gewalt-Begriff bedeutsame Schwierigkeiten. In der
Sportwissenschaft beispielsweise haben Untersuchungen zum
Verhalten von Hooligans meines Erachtens nichts zu tun mit dem
Thema "Gewalt im Sport", unter dem sie von (Sport-)
Soziologen meistens verhandelt werden. Diese m. E.
unzulässige Verknüpfung resultiert aus einem
Sport-Begriff, der völlig offen ist, den einzugrenzen die
meisten Sportwissenschaftler vermeiden.
Wer sich mit dieser Entwicklung (bzw. mit diesem
Zustand) nicht abfinden mag, muss sich dem mühevollen
Unterfangen stellen, auch den Begriff "Gewalt" (als zentralen
Gegenstand vieler Wissenschaften) zu klären, seinen Umfang
bzw. seine Grenzen zu bestimmen, und das heißt, "Gewalt"
(und andere Schlüsselbegriffe) zu definieren; und diese
(Arbeits-) Definition muss öffentlich bekannt gegeben, zur
Diskussion gestellt werden. Dies tue ich hiermit in der Hoffnung
auf fördernde Resonanz aller derer, die sich um klare
Begriffe in den Menschen-Wissenschaften bemühen.
Eine Definition soll die Bedeutung
eines Begriffs bestimmen, festlegen, ein- bzw. abgrenzen. Man
kann mehrere Arten des Definierens unterscheiden: Realdefinition,
Nominaldefinition, Feststellungsdefinition, ostentative und
operationale Definition. Ich schlage eine sogenannte
Realdefinition (Wesensbestimmung) vor. Sie soll
- als Antwort auf die Frage "was ist ...?" - das Wesen des
Gegenstandes eines Begriffes festlegen durch Angabe der
nächsthöheren Gattung (genus
proximum) und des artbildenden Unterschiedes (differentia specifica). Und "Fehler" kann man bei
einer regelrechten Definition auch machen, wenn sie z.B. zu eng
oder zu weit ist, Widersprüche enthält, unklar
formuliert ist, eine negative Formulierung oder gar das zu
definierende Wort selbst enthält (vgl. Regenbogen,
Arnim; Uwe Meyer (Hrsg.) (2013): Wörterbuch der
philosophischen Begriffe, begründet von F. Kirchner und C.
Michaëlis, fortgesetzt von J. Hoffmeister, vollständig
neu herausgegeben von A.R. und U.M. Hamburg: Felix Meiner 2013 (=
Philosophische Bibliothek, Band 500), Stichwort
"Definition".).
Wenn man eine solche Realdefinition erarbeiten
will, wie sie in den meisten Wörterbüchern und Lexika
geboten wird, muss man sich zunächst also Gedanken machen,
zu welcher Gattung Gewalt gehört, welche Begriffe auf
derselben Ebene angesiedelt sind und welches die
nächsthöhere Gattung bzw.
Begriffsebene (genus proximum) ist. Den Begriff Apfel
z.B. der Gattung Obst zuzuordnen, würde einen Schritt zu
weit gehen, weil Kernobst die nächsthöhere Gattung ist.
Diese Zuordnung ist bei dem Wort "Gewalt" besonders schwierig,
weil es ein so großes Bedeutungsfeld hat. In einem ersten
Zwischen-Schritt habe ich mich deshalb entschlossen, das Wort
"Gewalt" in seiner ganz allgemeinen
Bedeutung zu definieren. Ich lasse es in seiner
vielfältigen Allgemeinheit aber undiskutiert stehen, weil in
der Sportwissenschaft (und in anderen Menschenwissenschaften)
eine besondere Bedeutung des Worts "Gewalt" im Mittelpunkt steht:
die zwischen-menschliche Gewalt.
Für mich ist die nächsthöhere
Gattung für den ganz allgemeinen Begriff "Gewalt"
"Erscheinung". Gewalt ist - in seiner ganz allgemeinen
Bedeutung - eine von vielen Erscheinungen. Für "zwischenmenschliche Gewalt (unter Menschen)" ist
die nächsthöhere Gattung
"Handlungs-Möglichkeit". Gewalt in diesem
besonderen Sinne ist eine von mehreren Möglichkeiten zu
handeln, zwischen denen wir Menschen wählen können und
verantwortlich wählen müssen.
Im zweiten Schritt muss man den
"artbildenden Unterschied" (differentia
specifica) benennen, also das, was - im Falle des ganz
allgemeinen "Gewalt"-Begriffs - die Erscheinung Gewalt von
anderen Erscheinungen unterscheidet, bzw. was - im Falle des
engeren "Gewalt"-Begriffs - die Handlungsmöglichkeit Gewalt
von anderen Handlungs-Möglichkeiten unterscheidet. Dies
sollte so knapp und klar wie möglich formuliert werden mit
Worten bzw. Begriffen, die möglichst allgemein
verständlich sind.
Aus der grundsätzlichen Notwendigkeit, dass die hierbei
verwendeten Begriffe ja ihrerseits wieder definiert werden
müssten, folgern einige Autoren, dass ein solches Vorgehen
infinit oder gar zirkulär sei. Das Letzte wäre ein
schwerwiegender Verstoß gegen die Definitions-Regeln; daher
könne bzw. müsse man solches gar nicht erst versuchen.
Dieses Bedenken ist ebenso puristisch wie unfruchtbar. Meines
Erachtens ist es sowohl hinreichend als auch notwendig, die in
der Tat logisch denkbare Zirkularität als eine
"Unschärfe" in Kauf zu nehmen, um praktisch einen
großen Gewinn an begrifflicher Klarheit zu erwerben.
Selbstverständlich ist auch diese Definition
subjektiv, das Ergebnis (m)einer Handlung und (m)einer
Entscheidung; andere werden anders handeln und entscheiden.
Wissenschaft besteht natürlich aus dem Auseinandersetzen mit
anderen Subjekten, ihren Handlungen und Entscheidungen - mit dem
Angebot, das eigene Handeln und Entscheiden nachvollziehbar zu
begründen und damit nachprüfbar zu machen. Wenn
Wissenschaftler (ebenso wie viele zur Zeit maßgebliche
Sportwissenschaftler) den Standpunkt vertreten, man könne
"Gewalt" nicht definieren, so verweigern sie sich dem, was
(Gewalt- und Sport-) Wissenschaft grundlegend ausmacht; sie
bleiben damit im Alltags-Sprachgebrauch.
Dietrich Schotte hat vor Kurzem mit dem Buch "Was
ist Gewalt?" eine "philosophische Untersuchung zu einem
umstrittenen Begriff" vorgelegt, in der er eine Definition
entwickelt, die meiner (früher veröffentlichten!) sehr
ähnlich ist: "'Gewalt' bezeichnet die absichtliche
schwere Verletzung der Integrität eines Lebewesens gegen
dessen Willen." (S. 95) Leider hat er sich überhaupt
nicht mit meinen Überlegungen befasst. Auch Elias' Ansatz
übergeht er völlig.
2. Grenzen und Nutzen dieser
Gewalt-Definition
Meine Definitionsvorschläge mögen neu und
ungewohnt sein. Der Unterschied gegenüber dem alltags- und
umgangssprachlichen "Gewalt"-Begriff ist unvermeidlich - das ist
der Preis der (angestrebten) Klarheit und Genauigkeit. Man mag
auch - wie Hannah Arendt - meinen, neue Definitionen anzubieten,
helfe nicht viel; immerhin hilft es vielleicht ein wenig. Meine
Vorschläge bieten eine sehr allgemeine und eine etwas
weniger allgemeine sprachliche Kennzeichnung für das
Besondere von "Gewalt". Ich hoffe, mit diesen wenigen Worten das
Wesentliche erfasst zu haben. Siehe dazu auch die
Erläuterungen weiter unten!
Der m. E. größte und allgemeine Nutzen
dieser Begriffsklärung entsteht für den
wissenschaftlichen Diskurs: Wenn Menschen-Wissenschaftler
voneinander wissen, was sie jeweils unter "Gewalt" verstehen,
können sie - gerade bei verschiedenen Auffassungen -
miteinander reden in klarem Bewusstsein ihres je
unterschiedlichen Gebrauchs eines zentralen Begriffs ihrer
Wissenschaft.
3. Erläuterung einzelner Elemente
meiner spezielleren "Gewalt"-Definition
Zur Klärung für die hoffentlich
einsetzende Diskussion meiner Definitions-Vorschläge
erläutere ich im Folgenden kurz einzelne Elemente meiner
spezielleren "Gewalt"-Definition. Ich gehe davon aus, dass die
wenigen Worte meiner allgemeinen "Gewalt"-Definition ohne
weiteres verständlich sind, und beschränke mich in
diesem Fall auf einen sprachlichen Hinweis: Zu "Gewalt" als
allgemeiner Erscheinung gehört das Adjektiv
(Eigenschaftswort) "gewaltig", zur
zwischenmenschlichen "Gewalt" gehört das Adjektiv
"gewaltsam".
"Handlungsmöglichkeit":
"(Zwischenmenschliche) Gewalt" verstehe ich als eine
Möglichkeit zu handeln, eine von mehreren. Das
dazugehörige Adjektiv ist "gewaltsam", das mit seiner Endung
deutlich auf die Handlungsebene weist. "(Zwischenmenschliche)
Gewalt" ist für mich weder eine Eigenschaft noch ein
(Beziehungs-) Verhältnis, ein Zustand oder Ähnliches,
dies sind Beispiele für falsche kategoriale Zuordnungen,
für falsch gewählte "nächsthöhere Gattungen".
Da Gewalt nur eine von vielen Handlungs-Möglichkeiten ist,
sind wir verantwortlich dafür, ob und wie wir von dieser
Möglichkeit Gebrauch machen.
"natürlich gegeben": Diese
Handlungs-Möglichkeit ist allen (gesunden) Menschen - als
eine Möglichkeit! - grundsätzlich gemeinsam; sie
gehört zu unserer genetischen Ausstattung als Menschen. Es
gibt natürlich (!) allgemeine Unterschiede in dieser
Ausstattung, insbesondere wohl solche zwischen männlich und
weiblich, und es gibt natürlich besondere Unterschiede
zwischen den Individuen.
"kulturell formbar": Auf der
Grundlage der natürlichen Umstände und Bedingungen, die
von den Menschen in immer weiterem Ausmaß auch
verändert werden, entwickeln die Menschen ihre Lebensformen
gesellschaftlich / kulturell. In der Stammesgeschichte, im
Tier-Mensch-Übergangsfeld bedeutet die Fähigkeit zur
(Selbst-) Reflexion den entscheidenden Schritt von "tierischer"
zu "menschlicher" Entwicklung. Kultur ist die bewusste
Gestaltung der eigenen Entwicklung, sowohl auf der Ebene
der menschlichen Gattung als auch auf der des einzelnen Menschen.
Es gibt einerseits in allen Kulturen (Gesellschaften) eine tiefe
Übereinstimmung darin, dass (zwischenmenschliche) Gewalt
grundsätzlich "verboten" ist, zumindest prekär und der
Rechtfertigung bedürftig, selbst wenn sie in Notwehr
ausgeübt wird. Andererseits gibt es keine Kultur
(Gesellschaft), in der es tatsächlich überhaupt keine
Gewalt gäbe. Gesellschaften unterscheiden sich - unter
anderem - darin, wie sie mit real ausgeübter Gewalt umgehen.
Und die Individuen haben außer dem kulturell
Übernommenen (Religion, Sitte, Tradition usw.)
grundsätzlich eine je persönliche
Entscheidungs-Möglichkeit, ob und wie sie von der
Handlungs-Möglichkeit Gewalt Gebrauch machen wollen. Wir
können uns eine persönliche Haltung zum ethischen
Gewaltproblem erarbeiten.
"Schaden": Die Verwirklichung der
Handlungs-Möglichkeit Gewalt bedeutet in jedem Fall eine
schwere Verletzung der personalen Integrität eines anderen
Menschen oder auch seiner selbst. Die Erscheinungsformen der
zwischenmenschlichen Gewalt, gewaltsamen Handelns, sind
vielfältig, sei das Handeln nun ein aktives Tun oder ein
Unterlassen, sei das Handeln aktiv oder reaktiv, direkt oder
vermittelt, seien die Handlungen direkt sichtbar oder nicht, sei
der Schaden nun seelisch, körperlich oder sozial,
träten die Wirkungen direkt ein oder später. Auch
Doping ist eine Form der Gewalt (gegen sich selbst), ebenso sind
es die Erscheinungen von Magersucht bei Läufer(inne)n,
Skispringern, Turner(inne)n, Gymnastinnen, das
übermäßige Training der Dehnfähigkeit bei
Turner(inne)n, Gymnastinnen, Eiskunstläufer(inne)n usw.
Einen Schaden erleidet in erster Linie selbstverständlich
das menschliche Gewalt-Opfer; aber auch Gewalt-Täter
verletzen ihre eigene menschliche Würde, "nehmen Schaden an
ihrer Seele", um es biblisch auszudrücken.
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